[:de]Vom Schützengraben in den Hörsaal: Kriegsversehrte und internierte Studenten an der ETH Zürich im Ersten Weltkrieg[:en]From the trenches of the First World War to the university lecture halls: war invalids and POW students at ETH Zurich[:]

[:de]Die Schweiz muss ihm wie das Paradies erschienen sein. Nach eineinhalb Jahren in einem Lager für Kriegsgefange in Deutschland durfte der 25-jährige französische Infanterist Jean Chopin im Frühling 1916 in die neutrale Schweiz ausreisen. Endlich, nach mehr als drei Jahren Unterbruch, konnte er im Herbst 1917 wieder an ein Studium denken.

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Bewerbungsformular für Internierte, die in der Schweiz studieren wollten.
(ETH-Bibliothek, Hochschularchiv der ETH Zürich, Matrikel Chopin EZ-REK 1/1/14931)

Jean Chopin setzte sein Studium der Pharmazie, das er vor dem Krieg an der Universität Dijon begonnen hatte, nun in Zürich fort. Neben ihm studierten an der ETH während des Ersten Weltkriegs noch weitere Internierte, die meisten stammten aus Deutschland, aber auch aus Frankreich, Österreich-Ungarn, der Türkei und Grossbritannien. Die Bewilligung zum Studium als Hörer und Diplomstudenten an der ETH erhielten rund 80 Militärinternierte. In der ganzen Schweiz waren insgesamt über 1650 internierte Studenten an Hochschulen eingeschrieben.

Die internierten Studenten unterstanden militärischer Disziplin, obwohl ihnen in der Stadt Zürich das Tragen ihrer Militäruniform verboten war. Sie sollten wohl möglichst unauffällig sein, um eventuelle Anfeindungen auf der Strasse zu vermeiden. Das Flanieren am Limmatquai, an der Bahnhofstrasse oder gar das Stehenbleiben auf der Strasse war verboten!

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Ausschnitt aus der Studentenmatrikel von Jean Chopin. Der Stempel für Internierte ist gut erkennbar.
(ETH-Bibliothek, Hochschularchiv der ETH Zürich, EZ-REK 1/1/14931)

Für eine Internierung in der Schweiz kamen nur schwer kranke oder verletzte Kriegsgefangene in Frage (sowie Kriegsgefangene, die Väter von mehr als drei Kindern waren). Jean Chopin hat als Gründe für seinen Transfer in die Schweiz Neurasthenie (Nervenschwäche), Herzschwäche und Nierenprobleme angegeben. Chopins Landsmann André Ayçoberry hatte im Krieg ein Auge verloren. Er studierte an der ETH Maschinenbau und amtierte als Präsident des privaten Hilfsvereins „Amicale des internés alliés à Zurich“.

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Internierte französische Offiziere werden im Bahnhofbuffet Zürich verpflegt (Ausschnitt aus dem stark bearbeiteten Titelbild der Schweizer Illustrierten Zeitung, 19.2.1916, Nr. 8)

Dass die Schweizer Regierung bereit gewesen war Internierte aufzunehmen, hatte primär humanitäre Gründe, doch gab es eine Reihe weiterer Argumente, die dafür sprachen:

  • Für die Schweizer Hotellerie waren die Internierten eine willkommene Einkommensquelle, denn seit Ausbruch des Krieges waren die Touristen ausgeblieben. Nun bezahlten die Heimatländer den Aufenthalt der Internierten in den Ferienregionen der Schweiz.
  • Der Bundesrat konnte die Internierten bei Verhandlungen mit ausländischen Regierungen um die Höhe von Lebensmittelimporten als Argument anführen.
  • Kriegsversehrte Internierte boten Schweizer Ärzten die Gelegenheit, die Wirkung moderner Kriegswaffen zu erforschen und neue Therapien zu entwickeln.

Von 1916 bis 1918 fanden insgesamt 70‘000 Internierte in der Schweiz Aufnahme. Da viele noch vor Kriegsende in ihre Heimatländer ausreisen durften, waren nie mehr als 30‘000 Internierte gleichzeitig im Land. Auch Chopin und Ayçoberry brachen ihr Studium an der ETH Zürich schon im Sommer 1918 ab, da sie in ihre Heimat Frankreich zurückkehren durften.

Quellen: Die Studentenmatrikel der Diplomstudierenden sowie die Listen der Auditoren sind einsehbar im Hochschularchiv der ETH Zürich.

Roland Gysin: „Und wir möchten helfen.“ Die Internierung verletzter Soldaten und Offiziere. In: Kriegs- und Krisenzeit. Zürich während des Ersten Weltkrieges, hrsg. v. Erika Hebeisen et al. Zürich 2014, S. 109-117.

Thomas Bürgisser: „Menschlichkeit aus Staatsräson.“ Die Internierung ausländischer Kriegsgefangener in der Schweiz im Ersten Weltkrieg.“ In: 14/18: die Schweiz und der Grosse Krieg, hrsg. v. Roman Rossfeld et al. Zürich 2014, S. 266-289.[:en]Switzerland must have seemed like paradise to him. After one and a half years in POW camp in Germany, Jean Chopin, a twenty-five-year-old French infantryman, was allowed to leave for neutral Switzerland in the spring of 1916. Finally, after an interruption of almost three years, he was able to take up his academic studies again in the autumn of 1917.

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Application form for POWs looking to study in Switzerland.
(ETH-Library, ETH-Zurich University Archives, enrolment of Chopin EZ-REK 1/1/14931)

In Zurich, Jean Chopin now resumed his studies in pharmacy which he had begun at the University of Dijon before the war. During the course of the First World War, he was joined by other POWs, most of which were from Germany, but also from France, Austro-Hungary, Turkey and Great Britain. Around eighty POWs were granted permission to enrol as undergraduate students at ETH Zurich. Over 1,650 POW students were enrolled at universities throughout Switzerland.

Even though they were forbidden from wearing their military uniforms in the City of Zurich, the POW students were subject to military discipline. Presumably, they were supposed to attract as little attentionas possible in order to avoid any potential hostility on the streets. Strolling along the Limmatquai, Bahnhofstrasse or even standing still in the street was prohibited!

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Excerpt from Jean Chopin’s student register. The stamp for POWs is clearly visible.
(ETH-Library, ETH-Zurich University Archives, EZ-REK 1/1/14931)

Only POWs who were seriously ill or wounded qualified for internment in Switzerland (as well as POWs who had more than three children). The reasons for Jean Chopin’s transfer to Switzerland were neurasthenia (weakness of the nerves), a heart condition and kidney problems. His compatriot André Ayçoberry, who had lost an eye during the war, studied mechanical engineering and served as president of the private charity called Amicale des internés alliés à Zurich.

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French officer POWs attending Zurich’s railway station restaurant (detail inthe heavily edited cover photo of the Schweizer Illustrierten Zeitung, 19.2.1916, No. 8)

The Swiss government was prepared to take in POWs  primarily for humanitarian reasons, but there were additional reasons, as well::

  • POWs were a welcome source of income for the Swiss hotel industry as tourists had stayed away since the outbreak of war. Now, the home countries paid for their POWs sojourns in the holiday regions of Switzerland.
  • During negotiations with foreign governments, the Swiss Federal Council used the amount of food which had to be imported to feed them as leverage.
  • Wounded POWs offered Swiss doctors an opportunity to research the effects of modern weapons of warfare and to develop new medical treatments.

Switzerland accepted a total of 70,000 POWs from 1916 to 1918. Many POWs were allowed to return home before the end of the war and thus there were never more than 30,000 POWs in the country at the same time. Chopin and Ayçoberry abandoned their studies at ETH Zurich in the summer of 1918 when they were granted permission to return to France.

Sources:  the student register for diploma students and the lists of students can be consulted at the ETH Zurich University Archives.

Roland Gysin: “Und wir möchten helfen. Die Internierung verletzter Soldaten und Offiziere.“ In: In: Kriegs- und Krisenzeit. Zürich während des Ersten Weltkrieges, ed. Erika Hebeisen et al., Zurich 2014, pp. 109-117.

Thomas Bürgisser: “Menschlichkeit aus Staatsräson. Die Internierung ausländischer Kriegsgefangener in der Schweiz im Ersten Weltkrieg.“ In: 14/18: die Schweiz und der Grosse Krieg, ed. Roman Rossfeld et al., Zurich 2014, pp. 266-289.[:]