[:de]Wer sucht, der findet: Briefe an und von Carl Gustav Jung im Hochschularchiv der ETH Zürich[:en]He who looks shall find: letters to and from Carl Gustav Jung in the ETH Zurich University Archives[:]

[:de]Mit wem korrespondierte Carl Gustav Jung, Psychiater und Begründer der „Analytischen Psychologie“? Mehr als 32‘000 Briefe, Briefdurchschläge, Abschriften, Kopien aus sechs Jahrzehnten sind neu in der Archivdatenbank des Hochschularchivs der ETH Zürich beschrieben und können online recherchiert werden.

Carl Gustav Jung, Interview

Carl Gustav Jung diktiert keinen Brief, sondern gibt ein Interview in der Bibliothek seines Hauses in Küsnacht, 1955 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Com_L04-0084-0033)

Carl Gustav Jung (1875-1961) lehrte von 1933-1941 als Privatdozent und Titularprofessor für Psychologie an der ETH Zürich. Diese Tätigkeit führte dazu, dass er der ETH Zürich testamentarisch seine wissenschaftlichen Papiere für Forschungszwecke vermachte, darunter den umfangreichen Korrespondenzbestand. Als Findmittel zur Suche nach bestimmten Briefwechseln diente bisher eine nicht öffentlich zugängliche Namenskartei.

Nun sind die Namen der gut 6000 Briefpartnerinnen und Briefpartner online ersichtlich. Alphabetisch reichen sie von Aaronson bis Zwingmann. Frau Aaronson bittet Jung um ärztliche Hilfe, ihr Brief untersteht daher einer Schutzfrist. Zwingmann dagegen, dessen Korrespondenz ohne Auflagen zugänglich ist, will mit Jung über Nostalgie diskutieren. Eine Thematik, die Jung nicht interessiert.

©Stiftung der Werke von C.G. Jung

Briefumschlag „Concept des Briefes an Frau Dr. E. Foerster-Nietzsche, October 1899“ (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Hs 1056:29794). © Stiftung der Werke von C.G. Jung, Zürich.

Das älteste Schriftstück des Korrespondenzbestandes ist ein handschriftlicher Briefentwurf Jungs vom Oktober 1899 an Elisabeth Förster-Nietzsche, die Schwester des Philosophen Friedrich Nietzsche. Der 24jährige Jung studierte damals noch Medizin an der Universität Basel. Nietzsche war hier 1869-1879 Professor für klassische Philologie gewesen, musste sich gesundheitshalber frühpensionieren lassen und verbrachte die nächsten Jahre bis zum Ausbruch seiner Geisteskrankheit als freischaffender Philosoph. Seit 1897 lebte er völlig umnachtet in Weimar unter der Obhut seiner Schwester, die auch sein Werk verwaltete.

Jung hatte begonnen, sich in die Bücher des früheren Basler Professors zu vertiefen, und war fasziniert von „Also sprach Zarathustra“. Dabei kam ihm eine Stelle seltsam bekannt vor, weshalb er sich an Nietzsches Schwester wandte:

„Geehrte Frau!

Nur mit grosser Zaghaftigkeit wage ich es, Ihre kostbare Zeit für eine kleine Sache in Anspruch zu nehmen. Ich war lange im Zweifel, ob ich Sie mit einer anscheinenden Geringfügigkeit behelligen dürfe; jedoch überwog zuletzt das Verlangen nach Aufklärung über eine eigenthümliche Schilderung in einem Werke Ihres Herrn Bruders. […]“

©Stiftung der Werke von C.G. Jung

C.G. Jung an Elisabeth Förster-Nietzsche, 26. Oktober 1899, Anfang (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Hs 1056:29794). © Stiftung der Werke von C.G. Jung, Zürich.

Der belesene Medizinstudent hatte eine auffallende stilistische und inhaltliche Übereinstimmung mit einer Gespenstergeschichte aus der Zeitschrift „Minerva“ entdeckt, die in den „Blättern aus Prevorst“ nachgedruckt worden war, einer Sammlung mit Berichten von merkwürdigen Begebenheiten. Nach seitenlangen ausführlichen Zitaten und genauen Quellenangaben der betreffenden Stellen fährt er fort:

„[…] Es wäre von mir allzu grosse Kühnheit, wenn ich mich unterfangen wollte, Ihnen die feinen und intimen Parallelen, die unmittelbare Identität der Situation sowohl, als des Ausdruckes zu recapitulieren.

Falls Sie den Grund dieses wundersamen Zusammentreffens nicht schon lange kennen sollten, werden Sie es mir gewiss nicht verargen, dass ich dem Drange des höchsten Erstaunens folgend, diese Beobachtung sogleich vertrauensvoll in Ihre Hand zu legen mich beeilte.

Ich bin mir wohl bewusst, dass ich meine Zudringlichkeit zu weit triebe, wenn ich den sehnlichen Wunsch äussere: Sie möchten mir eine kurze Aufklärung zukommen lassen, (falls Solches überhaupt möglich ist!), wann Ihr Herr Bruder die „Blätter aus Prevorst“ oder die „Minerva“ gelesen hat.

Der psychologische Grund zu dieser äusserst frappanten unbewussten Reminiszenz scheint in der göttlichen Beziehung (‚Inspiration‘), aus welcher „Zarathustra“ geboren ward, zu liegen.

Die übernatürlich erleichterte und erweiterte Reproduction in anomalen Zuständen des Bewusstseyns ist eine vom Mediciner wohlbekannte Thatsache. Ein analoger Fall ist bei Eckermann (‚Gespräche mit Goethe‘) citiert – Sic parvis componere Magna solebam [So pflegte ich mit Kleinem Grosses zu vergleichen. Zitat aus Vergil, Eclogae 1].

Genehmigen Sie geehrte Frau, den Ausdruck meiner aller grössten Hochachtung.

Ergebenst K.G. Jung“

©Stiftung der Werke von C.G. Jung

C.G. Jung an Elisabeth Förster-Nietzsche, 26. Oktober 1899, Schluss (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ, Hs 1056:29794). © Stiftung der Werke von C.G. Jung, Zürich.

Die Adressatin war wohl wenig erbaut von der geschraubten Epistel. Seit geraumer Zeit kursierten nämlich Plagiatsvorwürfe an Nietzsche. Und jetzt noch diese neuen, peinlich genauen Vergleiche! Wer war denn dieser Jung überhaupt, mochte sie sich gefragt haben. Hätte sie ihn kennen müssen? Aus Basel schrieb er, wo ein Jugendfreund und alte Bekannte ihres Bruders lebten, von denen sie sich distanziert hatte. Wollte man ihr etwa eine Falle stellen?

Doch Jung hatte nicht vor, den Ruhm des bewunderten Nietzsche zu beschädigen. Er war tatsächlich an den medizinischen Gesichtspunkten seiner Entdeckung interessiert. In seiner Dissertation von 1902 „Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene“ erwähnt er die schriftliche Bestätigung von Elisabeth Förster-Nietzsche, dass ihr Bruder im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren die „Blätter aus Prevorst“ bei seinem Grossvater gelesen habe, später nicht mehr. Es ist dann Jung selber, der ein bewusstes Plagiat von Nietzsche explizit ausschliesst.

In der Archivdatenbank sind unter den Korrespondenzen mit anderen bekannten und mehr noch mit unbekannten Persönlichkeiten auch alle Briefe nachgewiesen, die 1973 in der dreibändigen Auswahledition von C.G. Jungs Briefen publiziert wurden, ebenso der 1974 veröffentlichte Briefwechsel mit Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse und Jungs Lehrer, oder der 1992 edierte Austausch von Briefen mit Wolfgang Pauli, ETH-Professor und Nobelpreisträger für Physik.

Wer trotz der Fülle des Angebots das Gesuchte nicht findet, wende sich bitte an das Hochschularchiv der ETH Zürich. Denn viele Schreiben von und an Jung befinden sich nicht in dessen Nachlass, sondern in anderen Beständen.

Hinweise

Zitate aus dem Briefentwurf Jungs an Förster-Nietzsche und Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Stiftung der Werke von C.G. Jung, Zürich.

Bishop, Paul: The Jung/Förster-Nietzsche Correspondence, in: German Life and Letters 46 (1993), pp. 319-330. Darin vollständig abgedruckt die Reinschrift des Briefes von C.G. Jung an Elisabeth Förster-Nietzsche vom 26. Oktober 1899; ein Entwurf der Antwort von Elisabeth Förster Nietzsche an C.G. Jung vom 24. November 1899 und ein weiterer Brief von C.G. Jung an Elisabeth Förster-Nietzsche vom 11. Dezember 1899. Alle drei befinden sich im Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar.

Liebscher, Martin: Libido und Wille zur Macht. C.G. Jungs Auseinandersetzung mit Nietzsche, Basel 2012, S. 40-44.[:en]With whom did Carl Gustav Jung, psychiatrist and founder of analytical psychology, correspond? Over 32,000 letters, carbons, transcripts and copies from six decades are now described in the ETH Zurich University Archives database and can be searched for online.

Carl Gustav Jung, Interview

Instead of dictating a letter, Carl Gustav Jung gives an interview in the library at his house in Küsnacht, 1955 (ETH Library, Image Archive, Com_L04-0084-0033)

Carl Gustav Jung (1875-1961) taught at ETH Zurich as a private lecturer and adjunct professor of psychology from 1933-1941. This position prompted him to bequeath his academic papers, including his extensive letter holdings, to ETH Zurich for research purposes. Previously, an internal card index was the only finding aid available to access any particular correspondences.

Now, however, the names of the roughly 6,000 correspondents are visible online, organised in alphabetical order from Aaronson to Zwingmann. As Ms Aaronson asked Jung for medical assistance, her letter is subject to a protection period. Zwingmann, on the other hand, whose correspondence is accessible without any restrictions, wanted to discuss nostalgia with Jung. A topic that did not interest Jung.

©Stiftung der Werke von C.G. Jung

Envelope “Concept of the letter to Dr E. Foerster-Nietzsche, October 1899”; (ETH Library, ETH Zurich University Archives, Hs 1056:29794). © Stiftung der Werke von C.G. Jung, Zurich.

The oldest document in the correspondence holdings is a handwritten draft of a letter by Jung dated October 1899 to Elisabeth Förster-Nietzsche, the sister of philosopher Friedrich Nietzsche. The 24-year-old Jung was still studying medicine at the University of Basel at the time. Nietzsche had been a professor of classical philology there from 1869-1879 but, for health reasons, had taken early retirement and spent the next few years as a freelance philosopher until the onset of his mental illness. From 1897 he had been living in Weimar, mentally deranged, in his sister’s care, who also managed his work.

Jung had begun to delve into the books by the erstwhile Basel professor and was fascinated by Thus Spoke Zarathustra. When a section seemed strangely familiar to him, he turned to Nietzsche’s sister:

“Dear Madam!

It is only with great diffidence that I dare encroach on your precious time for such a trifling matter. I was long dubious as to whether I might trouble you with such an ostensible triviality; however, the urge for enlightenment regarding a peculiar account in one of your brother’s works ultimately prevailed. […]”

©Stiftung der Werke von C.G. Jung

C.G. Jung to Elisabeth Förster-Nietzsche, 26 October 1899, beginning (ETH Library, ETH Zurich University Archives, Hs 1056:29794). © Stiftung der Werke von C.G. Jung, Zurich.

The well-read medical student had spotted a striking stylistic and content-related similarity with a ghost story from the magazine Minerva, which had been reprinted in Blätter aus Prevorst, a collection of accounts of strange episodes. Following pages of extensive quotations and precise references of the sections in question, he continued:

“[…] It would be far too audacious of me if I were to recapitulate the fine and intimate parallels, the direct identity of the situation and the expression.

In case you have not long known the reason for this wondrous encounter, surely you will not hold it against me that I, following my utmost astonishment, immediately hurried to offer you this observation. 

I am well aware that I am going too far with my intrusiveness when I express my fond wish: would you be so kind as to explain (if this is even possible!) when your brother read Blätter aus Prevorst or Minerva

The psychological reason behind this extremely astounding, unwitting reminiscence seems to lie in the divine relationship (“inspiration”) out of which Zarathustra was born.

The supernaturally facilitated and extended reproduction in abnormal states of consciousness is a fact that the physician is familiar with. An analogous case is cited in Eckermann (‘Gespräche mit Goethe’’) – Sic parvis componere Magna solebam [so I used to compare great things with small. Quote from Vergil, Eclogae 1].

Please accept, Dear Madam, the expression of my utmost respect.

Sincerely K.G. Jung”

©Stiftung der Werke von C.G. Jung

C.G. Jung to Elisabeth Förster-Nietzsche, 26 October 1899, end (ETH Library, ETH Zurich University Archives, Hs 1056:29794). ©Stiftung der Werke von C.G. Jung, Zurich.

The addressee presumably took a fairly dim view of the inflated epistle. For some time, accusations of plagiarism surrounding Nietzsche had been circulating. And now these new, embarrassingly accurate comparisons! She must have asked herself who this Jung was. Should she have known him? He had written from Basel, where a childhood friend and acquaintance of her brother’s lived and from whom she had distanced herself. Was someone now trying to set a trap for her?

But Jung had no intention of harming Nietzsche’s reputation, whom he greatly admired. He really was interested in the medical aspects of his discovery. In his 1902 dissertation Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene (On the Psychology and Pathology of So-Called Occult Phenomena), he mentions written confirmation from Elisabeth Förster-Nietzsche that her brother had read Blätter aus Prevorst at his grandfather’s house aged between 12 and 15, but not after that. It was then Jung himself who explicitly ruled out deliberate plagiarism on the part of Nietzsche.

In the archive database, the index of correspondences with other well-known and also unknown figures also includes all letters that were published in 1973 in the three-volume special edition of C.G. Jung’s letters and the collection of letters published in 1974 which he exchanged with Sigmund Freud, the founder of psychoanalysis and Jung’s teacher; or the exchange of letters with Wolfgang Pauli, an ETH-Zurich professor and winner of the Nobel Prize in Physics, which were published in 1992.

Anyone who, despite the rich range on offer, is unable to find what they are looking for should contact the ETH Zurich University Archives. After all, many letters from and to Jung are located in other holdings than his personal papers.

References

Quotations of Jung’s drafted letter to Förster-Nietzsche and images: courtesy of the Foundation for the Works of C.G. Jung / Stiftung der Werke von C.G. Jung, Zurich.

Bishop, Paul: The Jung/Förster-Nietzsche Correspondence, in: German Life and Letters 46 (1993), pp. 319-330. Containing the fully reprinted clean copy of C.G. Jung’s letter to Elisabeth Förster-Nietzsche from 26 October 1899, a draft of the Elisabeth Förster Nietzsche’s response to C.G. Jung from 24 November 1899 and another letter from C.G. Jung to Elisabeth Förster-Nietzsche from 11. December 1899. All three are located in the Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar.

Liebscher, Martin: Libido und Wille zur Macht. C.G. Jungs Auseinandersetzung mit Nietzsche, Basel 2012, pp. 40-44.[:]

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